Karl Ludwig Alexander Schuke

Von der Freude Orgeln zu Bauen

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Karl Ludwig Alexander Schuke
1906Karl Ludwig Alexander Schuke wurde am 6. November 1906 in Potsdam geboren
1912Beginn der Schulzeit
1922Abschluss der Schule mit Obersekundarreife am humanistischen Viktoria-Gymnasium in Potsdam
1922Beginn der Orgelbaulehre in der Werkstatt seines Vaters
1924Spezialausbildung im Metallpfeifenbau. Aufbau einer Pfeifenwerkstatt mit Ausbildung von Fachkräften
1927Konstruktion pneumatischer und elektrischer Traktur- und Windladensysteme
1933Tod des Vaters im November. Karl und sein Bruder Hans-Joachim, führen gemeinsam den Betrieb weiter. Karl ist für orgelbautechnische Fragen zuständig, Hans-Joachim übernimmt die kaufmännische Verantwortung
1934Restaurierung historischer Positive der Instrumentensammlung der staatlichen Hochschule für Musik in Berlin-Charlottenburg
1935Erstmalige Konstruktion und Bau einer mechanischen, zweimanualigen Orgel mit 25 Registern für die Ernst-Moritz-Arndt-Kirche in Berlin-Zehlendorf
1939Bis Kriegsausbruch sind ca. 50 Orgeln gebaut. Trotz kriegsbedingter Einschränkungen existiert der Betrieb ausschließlich durch Orgelbauten und Reparaturen weiter
1940Während sein Bruder Hans-Joachim zum Militärdienst einberufen wird, bleibt Karl Schuke zu Hause und leitet die Werkstatt allein
1945Insgesamt 15 Orgeln werden während des Krieges neu gebaut, u.a. 1941 Berlin-Emmauskirche, IV/70 (1943 zerstört) und 1943 Eisenstadt (Österreich), Restaurierung der Haydn-Orgel
1945Wiederaufbau des durch Kriegseinwirkung beschädigten Betriebes und Fortsetzung der Arbeiten
1946Beginn der Planung zum Wiederaufbau der Stellwagen-Orgel in Stralsund
1948Rückkehr von Hans-Joachim Schuke aus russischer Gefangenschaft
1950Gründung der Berliner Orgelbauwerkstatt GmbH
1952Bis zum Ausscheiden aus dem Potsdamer Betrieb, im Dezember 1952, Bestandsaufnahmen, Reparaturen und Wiederaufbau zerstörter Orgeln. Daneben zahlreiche Neubauten, u.a. 
   1946 Berlin Dom (Gruftkirche) 
   1949 Magdeburg Dom (Remter)
   1950 Brandenburg Dom, Restaurierung der Wagner-Orgel von 1723 
1953Übersiedlung nach Berlin und Aufbau der Berliner Werkstatt
1955Lehrauftrag für Orgelkunde an der Hochschule für Musik in Berlin (heute Universität der Künste - UdK)
1956Berufung in den staatlichen Prüfungsausschuss für Kirchenmusiker
1962Verleihung der Professorenwürde
1966Honorarprofessor an der staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Berlin
1967Wahl in den Vorstand des Bundes deutscher Orgelbaumeister (BdO)
197020 Jahre Berliner Orgelbauwerkstatt und Fertigstellung des 250. Instrumentes
1972Verleihung des Bundesverdienstkreuzes
1987stirbt Prof. Karl Schuke in Berlin

Karl Schuke im Gespräch mit Karla Höcker (1971)

Wenn Sie an Ihre Kindheit und frühe Jugend zurückdenken, Herr Professor Schuke, welche Eindrücke und Ereignisse haben dann am stärksten auf Sie eingewirkt im Hinblick auf Ihre spätere Arbeit? Sind Sie der Meinung, dass Sie, unbewusst oder bewusst, auf der Tradition des alten märkischen Orgelbaus fußen, zu dessen Kreis die Werkstatt Ihres Vaters gehörte?

Ich bin in Potsdam groß geworden, auf einem Grundstück im holländischen Viertel. Auf unserem Hof stand die Werkstatt, und wir vier Geschwister gingen von Kindheit an dort ein und aus. Ich habe schon sehr früh Freude an der Arbeit in der Werkstatt gehabt, aber von Stil und Tradition wusste ich natürlich nichts.

Und wann haben Sie angefangen, sich selber dabei zu betätigen?

Es gibt eine Aufnahme von uns Kindern, auf der ich, etwa zwei Jahre alt, eine Orgelpfeife im Mund habe. Ob das von meinem Vater so arrangiert war, weiß ich nicht. Jedenfalls muss ich schon als kleines Kind Spaß an der Orgelpfeife gehabt haben, und die Orgelpfeife, die die eigentliche Musik macht, ist ja das Entscheidende. Mein Vater hat mich schon sehr früh zu Orgelstimmungen mitgenommen, und ich durfte dabei für ihn die Tasten anhalten. Dadurch bin ich ganz unbewusst in die Atmosphäre, die geistige Atmosphäre einer Kirche, eines Kirchenraumes mit Orgel, eingeführt worden, und das war etwas, das mich immer wieder sehr stark beschäftigt hat.

Wie sich die Zukunft für mich gestalten würde, das konnte ich mir damals noch nicht vorstellen. Ich bin überhaupt kein Rationalist, der einen festen Plan hat. Eher neige ich dazu mich treiben zu lassen, aber auch das drückt es eigentlich nicht ganz aus. Ich möchte eher sagen, dass ich die Aufgaben annehme, die mir von der Umwelt gestellt werden; doch auch das Wort "Aufgabe" ist schon wieder viel zu präzise. Das eigentlich Faszinierende war für mich immer die Freude an der Sache. Wenn mein Vater mich als Vier- oder Fünfjährigen zum Orgelstimmen mitgenommen hat und ich die Tasten anhalten durfte, dann habe ich einfach Spaß an dieser Sache gehabt; mit fünf Jahren habe ich zum ersten Mal eine Störung an einer Orgel beseitigen können. Man darf bei den Jugendeindrücken eines heute 65 jährigen Menschen nicht vergessen, dass sie in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg aufgenommen wurden. Die Potsdamer Atmosphäre erinnerte damals in mancher Beziehung noch an die Welt Theodor Fontanes, und die Begegnung mit ihr ist für mich etwas ganz Entscheidendes gewesen.

Durch die Orgelarbeit führte mich mein Weg von früh an in die Mark Brandenburg und ihre charakteristische Landschaft. Unsere Ferien verlebten wir Kinder immer auf dem Lande und zwar in einem Pfarrhaus. Meine beiden Großväter waren Pastoren, auch mein Vater hatte ursprünglich Pastor werden wollen. Auch er ist, genau wie ich, über die praktische Arbeit am Instrument zum Orgelbau gekommen. Er hatte sich zunächst in dem bekannten Damenstift in der Prignitz mit einem Harmonium beschäftigt, hatte es repariert und dann aus Handschuhleder und sonstigen Materialabfällen selber eines gebastelt. Ein Klavierbauer, der ihn dabei beobachtete, erkannte seine Begabung. Er riet ihm sie zu nutzen. Die Freude meines Vaters an diesem "Spiel“ hat sich später auf mich übertragen, auch ich bin ja eigentlich "spielend" zu meinem Beruf gekommen. Gedanken über die Zukunft spielten in dieser Zeit bei mir noch keine Rolle. Die materiellen Nöte des ersten Weltkrieges machten sich auch in unserer Werkstatt bemerkbar durch das Zurückgehen der Aufträge. Aber das Erlebnis solcher Schwierigkeiten hat mein weiteres Berufsbild nicht beeinflusst. Ich ging mit Lust und Liebe an die Arbeit und auch gelegentliche Sorgen änderten nichts daran, dass meine Lebensaufgabe im Orgelbau steckte.

Haben Sie denn schon im ersten Weltkrieg in der Werkstatt gearbeitet?

Nein, ich trat am 1.April 1922 als Lehrling in die väterliche Werkstatt ein; vorher hatte ich das Gymnasium besucht. Mein Vater war kein weithin bekannter Orgelbauer, er bewegte sich hauptsächlich in der Mark Brandenburg und hat auch einige Orgeln in Berlin gebaut, die seinem Namen Gewicht gaben. Manchmal, wenn wir in irgendeiner Dorfkirche beschäftigt waren, hatte ich den Gedanken, es müsste schön sein, einmal eine Orgel für eine große Kirche, einen Dom, zu bauen und einen solchen Raum musikalisch mit Klängen zu packen. Aber wie es dazu kommt, wie es sich weiterentwickeln sollte, darüber habe ich nicht nachgedacht. Das Wesentliche bei allem war die Freude an der Arbeit.

Sie hatten, bevor Sie nach West-Berlin übersiedelten und die Berliner Orgelbauwerkstatt gründeten, schon über dreißig Jahre in der Potsdamer Werkstatt gearbeitet und diese von 1933 an mit Ihrem Bruder zusammen geleitet…

Ja, nach dem Tode meines Vaters, der sehr früh mit 63 Jahren, starb, haben mein Bruder und ich die Werkstatt gemeinsam in die Hand genommen. Er als geschäftlicher, ich als technischer Leiter. Durch die lange Krankheit unseres Vaters und die wirtschaftlich schlechte Zeit standen wir zunächst unter starkem Druck. Hinzu kam die große stilistische Wandlung, die der Orgelbau damals im Zusammenhang mit der Orgelbewegung durchmachte. Mein Vater, ein Kind der Romantik, lebte noch ganz in ihr und baute Orgeln in ihrem Sinne. Wir waren seine Schüler und haben deshalb zunächst die gleiche Richtung vertreten. Aus der Begegnung mit den klassischen Orgeln des sächsischen Orgelbauers Silbermann und des märkischen Joachim Wagner zogen wir dann ähnliche Erkenntnisse, wie sie Hanns Henny Jahnn bereits acht Jahre früher gewonnen hatte. Wir haben die Orgel völlig neu konzipiert.

Kann man denn Instrumente, die vor dieser Neuorientierung gebaut wurden, also nach romantischen Klangvorstellungen, in entscheidenden Punkten später wieder ändern? Oder ist das nicht möglich?

Nein, das kann man nicht. Die Orgel muss völlig neu durchdacht werden. Da mein Vater 1893 eine Orgelbauwerkstatt übernommen hatte, die bis zu einem gewissen Grade noch auf der klassischen Orgel basierte, habe ich Orgelpläne, Zeichnungen aus den Jahren 1840 bis 1890 durchstudieren können, die in Potsdam vorlagen. Ich habe mir auch verschiedene klassische Orgeln näher angeschaut, die nach diesen Prinzipien erbaut waren. Dann habe ich zum ersten Mal selber eine Orgel dieses Stils neu konzipiert und gebaut. sie steht in der Ernst-Moritz-Arndt- Kirche in Berlin-Zehlendorf. Ich habe mich dabei in gewissem Sinne fast als Autodidakt empfunden. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als ganz von vorn anzufangen und mich erst mit der gesamten Materie der Orgel, von der Technik bis zu den Pfeifen, eingehend zu beschäftigen, um schließlich einen neuen Stil zu entwickeln, der über seine Entstehungszeit hinaus Bestand haben sollte. Andere haben mir später gesagt, es sei eine ausgesprochene Pionierleistung gewesen.

Die Kunst des Orgelbaus erfordert eine große Vielseitigkeit, ein starkes Einfühlungsvermögen für die gegebenen Voraussetzungen einer Kirche, eines Konzertsaals, eines Rundfunkraumes. Ihr eigenes Stilgefühl hat sich wahrscheinlich durch das frühe Vertrautwerden mit dem Bau von Orgeln und den Räumen, für die sie bestimmt waren, ganz folgerichtig entwickelt und im Lauf der Jahrzehnte durch Begabung und zahllose Erfahrungen noch weiter verfeinert. Meinen Sie, dass solche Voraussetzungen auch heute noch genügen? Oder finden sie, dass der moderne Orgelbauer auch auf diesem Gebiet eine Spezialausbildung erhalten müsste? Sowohl vom musikalischen, wie vom kunsthistorischen, baulichen Standpunkt aus?

Ich kann da zunächst nur von meinen eigenen Erfahrungen ausgehen und muss feststellen, dass der Instinkt, auf den ich großen Wert lege, für mich in allen musikalischen Fragen immer das Entscheidende gewesen ist. Aber zweifellos weicht die heutige Situation stark von der damaligen ab. Damals gab es zum Beispiel auf diesem Gebiet eine Forschung erst in sehr bescheidenem Masse, ganz zu schweigen von Aspekten der Denkmalpflege. Heute dagegen legt die Wissenschaft ein umfangreiches Material vor, mit dem man sich rational auseinander setzen muss. Das erleichtert die Bewältigung der Aufgabe und erschwert sie zugleich. Sicher müssen alle diese Gesichtspunkte in Zukunft berücksichtigt werden. Daneben muss die handwerkliche Ausbildung selbstverständlich genau so gründlich und vielseitig erfolgen.

Wie ist das Verhalten der Hörer zur Orgel? In der Kirche wird sie von der überwiegenden Zahl der Laien meist als "feierlich, rauschend, großartig" empfunden, von machen übrigens auch als "traurig und einschüchternd". Der Kenner, der echte Musikliebhaber, wird natürlich sehr viel differenziertere Urteile abgeben. Er wird auch zwischen dem Klangideal der barocken Zeit, dem romantischen oder den heutigen Klangvorstellungen zu unterscheiden wissen. Was aber sagt die anonyme Menge, wie reagieren die Millionen von Menschen, die regelmäßig oder auch nur hin und wieder, in die Kirche gehen, gelegentlich auch einmal Orgelmusik hören, aber von den weitgespannten Ausdruckmöglichkeiten nur wenig wissen?

Da greifen Sie ein äußerst problematisches Gebiet auf. Ich glaube, dass das Verhalten der Hörer durchaus manipulierbar ist; der Klang der Orgel, die wir seinerzeit in der Ernst-Moritz-Arndt-Kirche gebaut haben, wirkte auf viele beinah so abstoßend wie manche Werke der zeitgenössischen Musik. So erinnere ich mich zum Beispiel an einen Reger-Abend von Otto Becker in der Potsdamer Garnisonkirche, bei dem die Hörer sich ostentativ die Ohren zuhielten oder davonliefen. Ähnlich erging es dem Orgelklang, den wir entwickelt hatten: er war neu und wirkte befremdend. Ich habe mich bei meinen Planungen nie vom Hörer abhängig gemacht, sondern stets das getan, was ich aus meinem Gefühl heraus als richtig erkannte. Eigene Kritik schließt das selbstverständlich nicht aus. Aber der Hörer ist manipulierbar, und das ist traurig. Man ist da oft sehr allein mit den eigenen Vorstellungen - zunächst. Es gibt manchmal nur zwei oder drei Menschen die wissen und verstehen, was man möchte. Ich glaube aber, dass alle neuen Kunsterscheinungen wohl letztlich nur von wenigen Leuten verstanden und unterstützt werden. So wie Michelangelo ohne den Papst nicht das geworden wäre, was er uns heute ist, oder Max Reger durch den Ruf des Herzogs von Meiningen, die Hofkapelle zu übernehmen, zu ganz neuen Instrumentationserfahrungen gelangte. Bei Bach war das anders, sein Leben verlief äußerst vielschichtig. In gewisser Weise finden sich darin Parallelen zur Problematik unserer Generation; auch wir haben die verschiedensten Stilepochen erlebt und erleben sie noch.

Hat sich angesichts der in so schnellem Wandel begriffenen zeitgenössischen Musik auch die Klangvorstellung der Komponisten, besonders der jüngsten Generation, von dem, was die Orgel bieten kann, gewandelt? Und worin vor allem liegt dieser andere Anspruch?

Die Begegnung mit zeitgenössischen Komponisten und ihrer Musik hat mich immer beschäftigt und bewegt. Ich denke an zahllose intensive Gespräche mit Hugo Distler, Joseph Ahrens, Siegfried Reda, Wolfgang Hufschmidt und Gerd Zacher - um nur einige zu nennen. Es ist für mich besonders wichtig, zu beobachten, welche neuen Aufgaben der Orgel auf Grund ihrer spezifischen Klangaussage gestellt werden. Ganz eindeutig ist zu erkennen, dass die Wiedereinführung der mechanischen Traktur, die Neuorientierung des Mensurbildes in Verbindung mit der dem Wesen der Orgelpfeifen entsprechenden Intonationstechnik wesentlich dazu beigetragen haben, dass das Musikinstrument Orgel entscheidende Impulse für neue Kompositionstechniken geben konnte.

Mir fällt auf, dass die junge konzertierende Generation - ich sprach darüber vor kurzem mit Daniel Barenboim- eine starke Hinneigung zu Bruckner, Mahler, Elgar überhaupt zu den Werken der Spätromantiker oder Vorexpressionisten hat. Und zwar Künstler, die sich im Übrigen durchaus mit Webern, Schoenberg, Bartók oder auch mit zeitgenössischen Komponisten identifizieren. Zeigt sich eine ähnliche Entwicklung auch auf dem Gebiet der Orgelinterpretation?

Augenblicklich erleben wir auf dem Gebiet des Orgelspiels geradezu eine Renaissance der Romantik, eine Hinneigung zu Mendelssohn, César Franck, Widor, Rheinberger und anderen. Selbst die Musik Karg-Ehlerts steht wieder zur Diskussion. Das ist für mich ein Horror, ich komme ja aus der Zeit von Rheinberger und Karg-Ehlert und war froh, dass diese Epoche überwunden schien. Ich glaube aber, dass sie von der jungen Generation durchlaufen werden muss, damit sie erkennt, was vorher vom 16. bis 18. Jahrhundert an wertvoller Musik geschrieben wurde. Außerdem liegt es wahrscheinlich im Wesen des Menschen - und besonders bei uns in Deutschland- von einem Extrem ins andere zu fallen. Dabei ergibt sich übrigens eine interessante Schwierigkeit: Den Orgelspielern stehen die Instrumente der Romantik kaum oder nicht mehr zur Verfügung! Viele sind im Kriege zerstört worden, andere dem Radikalismus einer Orgelreform zum Opfer gefallen, die ursprünglich ganz anders gemeint war. Hanns Henny Jahnn, der sie ausgelöst hat, sprach sich auf der Freiburger Orgeltagung von 1927 ganz eindeutig aus; er war gegen jeden Historismus.

In der modernen Literatur gilt er als eine der merkwürdigsten, genialsten Erscheinungen; Georg Hensel sagt in seinem Spielplan, er hätte außerdem die gesamte europäische Orgelbaukunst reformiert und unter großen persönlichen Opfern Gesamtausgaben von Barockmeistern herausgebracht. War er eigentlich ein Orgelfachmann?

Das kann man, glaube ich, nicht ohne weiteres sagen. Er war gewiss mehr ein Theoretiker und vor allem ein großer Anreger. Die Orgelreform, die er auslöste, war- zunächst - kein inneres Bedürfnis der Fachleute. Straube, damals der entscheidende Orgelmann, war mit Max Reger befreundet und hat die ganze spätromantische Epoche beherrscht. Und dann kam plötzlich dieser Hanns Henny Jahnn, der unbelastet und ungebunden von irgendwelchen Voraussetzungen war, und erzählte den Leuten von den Orgeln aus historischer Zeit. Von alten Orgeln, wie sie noch Buxtehude und Bach gespielt hatten. Aus der heutigen Perspektive würde ich das so sehen, wie es mir Josef Ahrens einmal beschrieb: wir waren berauscht -aber nicht überzeugt. Es war kein Bedürfnis der Kirchenmusik, sondern das künstlerische, das ästhetische Bedürfnis eines Außenstehenden.

Aber diese hätte doch nie zu so einschneidenden Änderungen führen können, wenn die Notwendigkeit nicht auch für die Kirchenmusiker längst latent vorhanden gewesen wäre!

Ja, so wird es wohl gewesen sein. Auf jeden Fall liegt hier ein Phänomen vor, das noch nicht genügend bewertet und musikwissenschaftlich untersucht wurde: in welcher geistigen Situation sich die Orgelmusik damals befand, dass ein solcher von außen kommender Vorstoß derartige Folgen haben konnte. - Heute wird die Orgelbewegung der zwanziger Jahre schon wieder von den verschiedensten Seiten verurteilt. Man glaubt, dass die romantischen Aussagen und Klangvorstellungen dem Menschen näher stehen und ihm mehr entsprechen, als das Klangideal der klassischen Zeit. Das übrigens eigentlich nicht so sehr bei Bach, als bei Buxtehude liegt! Das ist ja das Interessante: Bach ist zwar der Höhepunkt der Orgelmusik, trug aber die Keime des 19. Jahrhunderts, und damit die Voraussetzungen für die weitere Entwicklung der Orgelmusik, schon in sich.

Glauben Sie, dass Persönlichkeiten wie Ligeti, seine ganz spezifische Art, die Orgel als Instrument zu behandeln und sprechen zu lassen, großen Einfluss auf die Orgelmusik überhaupt hat?

Gewiss hat Ligetis "Volumina" die gegenwärtigen Orgelkomponisten stark beeinflusst; wir können aber heute über die Zukunft der Musik und des künftigen Musikstils nur sehr wenig sagen. Der Verschleiß ist ungeheuer. Alles nützt sich viel schneller ab, als noch vor dreißig, vierzig Jahren. Hindemith gilt nicht mehr als aktuell, ich selber kann z.B. Reger kaum noch hören, und ob die Musik meines Freundes Reda für andere noch erträglich ist, weiß ich nicht. Es wird sehr viel experimentiert, und ich begrüße das, weil ich alle Möglichkeiten offen sehen möchte und sich aus dem Experiment unter Umständen neue Wege der Musik und des Musizierens entwickeln könnten.

... Es macht mir immer wieder besonderen Spaß, über die jahrhundertelange Entwicklung der Orgel und der Orgelmusik nachzudenken. Sie wurde im Morgenland erfunden und im Abendland zu ihrer heutigen Form entwickelt; die Begegnung der europäischen Orgelkunst mit Völkern anderer Kulturkreise bedeutet daher eine Ausweitung ihrer Wirkungsbereiche und ihrer musikalischen Perspektiven - auch außerhalb des für uns traditionellen kirchlichen Raumes.